Samstag, 22. September 2012

Gewalt - Warum so tun, als gäbe es hier eine Debatte?

Am 9. Juli 2012 veröffentlichte die Kolumnistin Lisa Belkin in The Huffington Post einen Artikel mit dem Titel: "Why Does Everyone Pretend There's A 'Spanking Debate'?" - Warum tun alle so, als gäbe es eine "Debatte" zum Thema Schlagen?

Am selben Tag verlas der Kanadier Stefan Molyneux diesen Beitrag auf Freedomain Radio ("the largest and most popular philosophy show on the web"). Ich halte die Kernaussage dieses Artikels für ungemein wichtig und relevant, daher habe ich mir erlaubt, ihn hier zu übersetzen. 


Das Thema Gewalt gegenüber Kindern wird behandelt, als ob es sich hierbei lediglich um eine Meinungsverschiedenheit mit zwei (oder mehr) Ansichten handelt, über die es zu diskutieren, streiten, debattieren lohnt. "Schlagen" oder andere Formen von körperlicher Gewalt sind nur ein Aspekt in dieser vermeintlichen Debatte. Den hier angesprochenen Aspekt sollten wir auf jegliche Gewalt gegenüber Kindern (bzw. Menschen überhaupt) ausweiten.

Abgesehen davon, dass körperliche Bestrafung - ebenso wie jede andere Form der Bestrafung - als Erziehungsmittel auf Dauer oder gar unmittelbar unwirksam ist, d.h. noch nicht einmal die gewünschten Ergebnisse erzielt...

Und dass Bestrafung zu erheblichen negativen Konsequenzen für die physische und psychische Gesundheit führen kann...

Und dass jede Form einer an Bedingungen geknüpften Liebe und Erziehung - also auch Belohnung, Tadel und Lob!!! - schwerwiegende negative Konsequenzen nach sich zieht...

Ist nicht die Würde des Menschen unantastbar?


* * *

 
"Why Does Everyone Pretend There's A 'Spanking Debate'?"

Das Thema "Spanking" (Prügeln, Schlagen) war im Laufe der letzten Woche Gegenstand von Debatten auf jeder Eltern-Website, und ich verstehe nicht, warum.

Ja, ich weiß, warum es ein Gesprächsthema war - die angesehene Zeitschrift Pediatrics veröffentlichte zu Beginn der Woche eine Studie, die auf eine mögliche Verbindung zwischen dem Schlagen von Kindern und später auftretenden psychischen Störungen hinwies, und diese Neuigkeiten waren es wert, darüber zu reden.

Was ich nicht verstehe ist, warum es eine Debatte war? Eine Debatte setzt definitionsgemäß voraus, dass es zwei Seiten gibt. Ich sehe nur eine.

An welchem Punkt wird etwas einfach zur Tatsache? Der Artikel in der Pediatrics war nur der Neueste in einem jahrzehntelangen Aufmarsch an Studien, welche zeigen, dass Schlagen - mit der offenen Hand zum Zwecke der Korrektur oder der Bestrafung - im besten Fall wirkungslos ist und im schlimmsten Fall die seelische Gesundheit gefährdet.

Im April stellte ein Artikel im Canadian Medical Association Journal die Analyse von innerhalb zwei Jahrzehnten gesammelten Daten vor und kam zu dem Schluss, dass Schlagen keinerlei positive Folgen hat, die negativen Folgen hingegen sind ein erhöhtes Risiko für Depression, Angst, Substanzmissbrauch und aggressives Verhalten im späteren Leben.
Einige Jahre zuvor ergab eine andere in der Pediatrics vorgestellte Studie der Tulane Universität, dass dass Schlagen von Kindern im Alter von drei Jahren zu einer höheren Wahrscheinlichkeit führte, dass sie im Alter von 5 Jahren aggressiv, zerstörerisch und "gemein" waren.

Vor einem Jahrzehnt nahmen Psychologen der Universität in Columbia mehr als 80 Studien aus über 62 Jahren unter die Lupe und fanden eine "starke Korrelation" (starker Zusammenhang) zwischen Eltern, die Methoden der "körperlichen Bestrafung" anwandten und Kindern, die 11 messbare kindliche Verhaltensweisen zeigten. Zehn dieser Verhaltensweisen waren negativ, wie beispielsweise erhöhte Aggression und erhöhtes antisoziales Verhalten. Nur eine Verhaltensweise könnte als positiv in Betracht gezogen werden: Schlagen führte zu "unmittelbarer Folgsamkeit" (Gehorsam).

Eine Schusswaffe auf sie zu richten würde zum selben Ergebnis führen. Aber das rechtfertigt eine solche Tat nicht. Und, wie eine andere Studie zeigte, wenn dieser kurzzeitige Gehorsam auf Kosten einer Langzeit-Depression oder einer langfristigen Missachtung erzielt wird, was ist dann wirklich gewonnen?

Trotz dieser Menge an Daten, ergeben Umfragen und Studien jedoch, dass bis zu 90 Prozent aller Eltern ihre Kinder schlagen. Und jedes Mal, wenn wir Erziehungs-Reporter (parenting reporters) über die jüngsten Untersuchungen berichten, sind unsere Kommentar-Threads voll von Fachleuten, deren Anmerkungen von Empörung ("Ich wurde geschlagen und aus mir ist auch etwas geworden, verdammt nochmal") bis hin zu Verzweiflung reichen ("Ich will ja nicht schlagen, aber es ist die einzige Möglichkeit sie dazu zu bringen, dass sie auf mich hören").

Ich bin immer wieder erstaunt, wodurch Eltern ihre Meinung ändern. Es ist atemberaubend, wie schnell eine Studie oder ein Artikel  - manchmal - unsere Richtung verändern kann. Wir begannen, Babys lieber auf den Rücken zu legen anstatt auf den Bauch, als es Andeutungen eines Zusammenhangs zu plötzlichem Kindstod gab - aber keinen Beweis für einen solchen Kausalzusammenhang. Schwangere Frauen hörten auf, Sushi, Schmelzkäse, Koffein oder gar ein kleinstes Schlückchen Alkohol zu sich zu nehmen bei der geringen, aber dennoch beachtenswerten Möglichkeit, dass kleine Mengen Konsequenzen haben können. BPA(Bisphenol A)-Flaschen verschwanden in gewissen Kreisen quasi über Nacht, als noch inoffiziell eine Verbindung zu Krebs vermutet wurde.

Aber dann gibt es wieder Zeiten, da wollen wir einfach nicht wissen. In dieser Hinsicht ist die Diskussion um das Schlagen von Kindern wie die "Debatte" um Impfstoffe. Trotz unzuverlässiger Hinweise auf einen Zusammenhang mit Autismus und vielen Studien, die vergeblich versuchten, diesen Zusammenhang nachzuweise, gibt es doch Ansichten, die sich nicht ändern wollen.

Deine Eltern haben dich geschlagen und es hat dir auch nicht geschadet? Sie haben vielleicht auch in deiner Gegenwart geraucht oder dich im Auto nicht angeschnallt - aber wir wissen es jetzt besser. Also würde ich dich gern voller respekt fragen, woher weißt du, dass es dir nicht geschadet hat? Könnte es vielleicht sein, dass, wenn deine Eltern ihre Kinder nicht geschlagen hätten, du vielleicht nicht das Bedürfnis hättest, deine eigenen Kinder zu schlagen?

Es ist das einzige, was hilft, wenn deine Kinder nicht hören wollen? Schwedische Kinder laufen nicht Amok in den Straßen und Schlagen ist dort verboten seit 1979. Schweden war das erste von 32 Ländern - inklusive Costa Rica, Israel, Kenia und die meisten Länder Europas - welches ein solches Gesetz verabschiedet hat (A.d.Ü.: Deutschland hat sich danach noch 21 Jahre damit Zeit gelassen).

Manche Fragen eröffnen keine zwei Seiten. "Ist es in Ordnung, deinem Kind etwas anzutun, was dich ins Gefängnis bringen würde, wenn du es einem Fremden auf der Straße antätest?", ist eine von diesen Fragen. Du kannst es auch anders ausdrücken: "Ist es ok, einem Kind weh zu tun, um unmittelbar dein Ziel zu erreichen, während die Wissenschaft zeigt, dass dies zu Langzeitschäden führen kann?" Aber es gibt auch darauf nur eine Antwort.

Und dennoch, wir sehen es noch immer als Gegenstand einer Meinungsverschiedenheit!

"Schlagen oder nicht Schlagen" (Orig. "To Spank or Not to Spank" - angelehnt an das Zitat aus Shakespeares Hamlet: "To be, or not to be", "Sein oder nicht sein - das ist hier die Frage", A.d.Ü.) lautete die Überschrift sowohl eines gestrigen Berichtes des CNN als auch eines Abschnitts in "Good Morning America" vergangenen Donnerstag über die letzte Pediatrics-Studie. "Today" fügte die Zeile hinzu: "Mommy Wars: Raging Parenting Debate" (etwa: "Mama-Kriege: eine wütende Eltern-Debatte") und ein "Babble blogger" wurde gegründet, um jede Seite zu repräsentieren.

Aber es gibt keine zwei Seiten. Es gibt ein Überwiegen an Tatsachen, und es gibt Menschen, die es unbequem finden, diese Tatsachen zu akzepieren.
 
Wo genau ist die Debatte?

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